Die Gier, der Sog, die Masse Debütantenpreis des Kulturministeriums Bayern 1986
Ein Tisch, zwei Tische, viele Tische an denen Menschen sitzen, um die sich Menschen drängen, um die sich Massen von Menschen drängen, Menschen, die ihre erbeuteten Teller, ihr Besteck mit breit ausgestreckten Armen umschlingen, vor den Nachbarn schützen, Menschen, die ihre Teller mit Händen, die zu großen gierigen Pfoten werden, vor den anderen verteidigen, erkennbare Arme, Insektenarme, die zu den Tischen streben, nach dem Besteck, den Tellern, dem Kreuz greifen, aus der Tiefe kommen, Arme zu denen keine Köpfe gehören, kopflose Arme, armlose Hände, Hände mit bedrohlichem Würgegriff, mit von Gier verstellten Fingern, Arme mit Würgefingern, Menschen, deren Körper sich zu unzähligen, formlosen, knetbaren Teilen zersetzen, Körperteile, die ineinander verschlungen sind, körperlose Massen, formbare Körpermassen, knetbare Menschenmassen, kopflose Menschenmassen, unendliches Gewühl aus dem wieder einzelne Körper, wie aus einer aufgewühlten Wasserfläche für einige Augenblicke auftauchen, schwimmende Tische, welche die Rettung vor dem Sog der gleitenden Massen, vor ihrer alles aufsaugenden, alles verschlingenden Gier sind, Gier, nicht zu bändigende Gier, wie eine Schlammlawine alles verschlingende Gier, grenzlose Gier, atemverschlagende, atemberaubende Gier, Gier, die nie befriedigt wird, von der es keine Befreiung, aus der es keine Flucht gibt, maßlose Gier, Gier ohne Erlösung – die Arme haben keine Kraft, die Hände erstarren bevor sie greifen können, die Teller auf den Tischen bleiben unberührt…
Es sind ungewöhnliche Bilder, welche die junge Malerin Gabriela Dauerer unserer Gesellschaft entgegenstellt. Sie sind befremdend und doch höchst aktuell. Befremdend, weil sie so geballt, so direkt, so bedrohlich unsere Teilhabe an einer stummen Macht, die Masse genannt wird, unsere verdrängte Komplizenschaft an dem befreienden Sucht- und Gierverhalten unserer Massengesellschaft für das es keinen Freispruch und keinen Schuldspruch gibt, veranschaulichen. Bedrohlich, weil sie auch die letzte Illusion über die Rettung des Menschen als Subjekt und seines Begehrens vor den umarmenden Händen der beschleunigten Vermassung in Frage stellen. Dem Menschen gelingt es nicht mehr, sich aus jener zu dichten Umarmung, sich aus jenem verschlungenen Körper zu reißen, der unvermeidlich auch die Richtung des Wollens, des Begehrens, des Verlangens – das noch Nietzsche und Freud als subjektbezogen analysieren konnten – bestimmt und zu einer subjektlosen, zähen Gier umwandelt, die jeden Bezug zu jeglicher Realität verloren hat. Das eigene Verlangen kommt nicht mehr dazu sich zu entwickeln, der Mensch wird von einem vom Boden der Realität befreiten und daher atemberaubend beschleunigten Sog einer rausch- haften Gier verschlungen, ohne sich – und das ist ein Merkmal unserer modernen Gesell- schaft - als Opfer zu empfinden. Im Gegenteil, viele glauben immer wieder in einem kollektiven Begehren - ob politischen, ökonomischen oder künstlerischen – ein befreiendes Moment entdecken zu können. Diesem Glauben stellen sich die Bilder der Malerin Dauerer mit einer warnenden Eindringlichkeit entgegen.
— Noemi Smolik