Diverse Katalogtexte

Die Gier, der Sog, die Masse Debütantenpreis des Kulturministeriums Bayern 1986

Ein Tisch, zwei Tische, viele Tische an denen Menschen sitzen, um die sich Menschen drängen, um die sich Massen von Menschen drängen, Menschen, die ihre erbeuteten Teller, ihr Besteck mit breit ausgestreckten Armen umschlingen, vor den Nachbarn schützen, Menschen, die ihre Teller mit Händen, die zu großen gierigen Pfoten werden, vor den anderen verteidigen, erkennbare Arme, Insektenarme, die zu den Tischen streben, nach dem Besteck, den Tellern, dem Kreuz greifen, aus der Tiefe kommen, Arme zu denen keine Köpfe gehören, kopflose Arme, armlose Hände, Hände mit bedrohlichem Würgegriff, mit von Gier verstellten Fingern, Arme mit Würgefingern, Menschen, deren Körper sich zu unzähligen, formlosen, knetbaren Teilen zersetzen, Körperteile, die ineinander verschlungen sind, körperlose Massen, formbare Körpermassen, knetbare Menschenmassen, kopflose Menschenmassen, unendliches Gewühl aus dem wieder einzelne Körper, wie aus einer aufgewühlten Wasserfläche für einige Augenblicke auftauchen, schwimmende Tische, welche die Rettung vor dem Sog der gleitenden Massen, vor ihrer alles aufsaugenden, alles verschlingenden Gier sind, Gier, nicht zu bändigende Gier, wie eine Schlammlawine alles verschlingende Gier, grenzlose Gier, atemverschlagende, atemberaubende Gier, Gier, die nie befriedigt wird, von der es keine Befreiung, aus der es keine Flucht gibt, maßlose Gier, Gier ohne Erlösung – die Arme haben keine Kraft, die Hände erstarren bevor sie greifen können, die Teller auf den Tischen bleiben unberührt…

Es sind ungewöhnliche Bilder, welche die junge Malerin Gabriela Dauerer unserer Gesellschaft entgegenstellt. Sie sind befremdend und doch höchst aktuell. Befremdend, weil sie so geballt, so direkt, so bedrohlich unsere Teilhabe an einer stummen Macht, die Masse genannt wird, unsere verdrängte Komplizenschaft an dem befreienden Sucht- und Gierverhalten unserer Massengesellschaft für das es keinen Freispruch und keinen Schuldspruch gibt, veranschaulichen. Bedrohlich, weil sie auch die letzte Illusion über die Rettung des Menschen als Subjekt und seines Begehrens vor den umarmenden Händen der beschleunigten Vermassung in Frage stellen. Dem Menschen gelingt es nicht mehr, sich aus jener zu dichten Umarmung, sich aus jenem verschlungenen Körper zu reißen, der unvermeidlich auch die Richtung des Wollens, des Begehrens, des Verlangens – das noch Nietzsche und Freud als subjektbezogen analysieren konnten – bestimmt und zu einer subjektlosen, zähen Gier umwandelt, die jeden Bezug zu jeglicher Realität verloren hat. Das eigene Verlangen kommt nicht mehr dazu sich zu entwickeln, der Mensch wird von einem vom Boden der Realität befreiten und daher atemberaubend beschleunigten Sog einer rausch- haften Gier verschlungen, ohne sich – und das ist ein Merkmal unserer modernen Gesell- schaft - als Opfer zu empfinden. Im Gegenteil, viele glauben immer wieder in einem kollektiven Begehren - ob politischen, ökonomischen oder künstlerischen – ein befreiendes Moment entdecken zu können. Diesem Glauben stellen sich die Bilder der Malerin Dauerer mit einer warnenden Eindringlichkeit entgegen.

— Noemi Smolik

7 + 7 Katalog 1988, Echange Franco-Allemand

Ihre große Ausstellung hatte Gabriela erst dieses Jahr in Nürnberg. Und was sie dort präsentierte, sorgte für Überraschung. Auf großen Formaten wogen bis zur Unkenntlichkeit verschmolzene Menschenmassen, das Individiuum geht unter im Meer seiner Artgenossen. Das ist von ihr in vielen, sensibel nuancierten Grau-Blau – und Grüntönen fixiert. Einem wuchernden Lemuren-Heer gleich drängen sich die Leiber auf Bänken und an Tischen. Der Mensch als Persönlichkeit hat abgedankt. So malerisch reizvoll dies von Gabriela Dauerer in Öl festgehalten wird, so stark ist andererseits aber auch die Beklemmung, die von diesen Bildern ausgeht. Dazu schrieb in einem Katalogtext Noemi Smolik:“ Es sind ungewöhnliche Bilder, welche die junge Malerin Gabriela Dauerer unserer Gesellschaft entgegenstellt. Sie sind befremdend und doch höchst aktuell. Befremdend, weil sie so direkt, so bedrohlich unsere Teilhabe an einer stummen Macht, die Masse genannt wird, unsere verdrängte Komplizenschaft an dem befreienden Sucht- und Gierverhalten unserer Massengesellschaft, für das es keinen Freispruch und keinen Schuldspruch gibt, veranschaulichen. Bedrohlich, weil sie auch die letzte Illusion über die Rettung des Menschen als Subjekt und eines Begehrens vor den umarmenden Händen der beschleunigten Vermassung in Frage stellen.“

Gabriela Dauer ist keine Künstlerin, die sich in einen Elfenbeinturm zurückzieht. Sie belässt es auch nicht allein damit, ihre Erfahrungen in der Heimatstadt Nürnberg zu machen. Nachdem sie im vergangenen Jahr ihr Akademiestudium als Meisterschülerin beendet hatte, reiste sie viel, unter anderem nach Südfrankreich und nach Italien, wo sie gegenwärtig gelegentlich arbeitet. Diese Offenheit anderen Menschen und Kulturen gegenüber prägt, auch wenn dies auf den ersten Blick nicht offensichtlich sein mag, Gabriela Dauerers Malerei. Hier ist eine Künstlerin, die mit wachen Augen die Welt beobachtet, die um sie herum ist. Dass dies nicht immer zu so düsteren Bildern wie den erwähnten führen muss, wird in den Ölzeichnungen demonstriert, die dynamisch und vital eine ganz andere Geschichte der menschlichen Komödie (oder Tragödie) erzählen.

Sa premiére exposition importante eut lieu cette année à Nüremberg et les oeuvres présentées suscitérent l’étonnement. L’on pouvait voir présentées sur grand format des masses humaines se fondant jusqu’à devenir méconnaissables, l’individu englouti par la mer des compagnons de son espéce. Représentrations fixées par l’artiste au moyen de multiples tons de gris, bleu et vert nuancés avec sensibilité. Semblable à une foisonnante armée de lémures, les corps se pressent sur des bancs et des tables. L’homme a démissionné en tant que personnalité. Ces peintures nous charment tout en provoquant un sentiment d’oppression. Noemi Smolik écrivait dans un article à leur propos:” Ce sont des tableaux inhabituels que la jeune peintre Gabriela Dauerer oppose à notre société. Ils sont surprenants et pourtant tout á fait d’actualité. Surprenants car ils illustrent de maniére si directe et si menacanté, notre participation à une puissance silencieuse, appelée masse, notre complicité refoulée du comportement libérateur passionnel et avide des notre sociéte de masse pour laquelle il n’existe ni faute ni pardon. Menacants, car ils mettent en doute la derniére illusion du salut de l’homme en tant que sujet et son désir face à l’étreinte de la massification accélérée”.

Gabriela Dauerer n’est pas une artiste qui se retire dans une tour d’ivoire, et elle ne limita pas son expérience à la ville de Nüremberg. Aprés ses études universitaires, elle voyagea beaucoup l’année derniére, en particulier dans le Midi de la France et en Italie où elle travaille de temps en temps. Cette ouverture á d’autres peuples et cultures imprégne sa peinture, meme si cela ne saute pas immédiatement aux yeux. Nous avons affaire ici á une artiste qui observe le monde l’eutourant d’un oeil vigilant. Que ceöa ne méne pas toujour á de sombres tableaux, comme ceux dont nous avons parlé, est illustré par des dessins à l’huile racontant avec vitalité et dynamisme une toute autre histoire de la comédie (ou la tragédie) humaine.

— Michael Becker

Raum und Zeit in Bildern I Gabriela Dauerer, Symphonie Null 1996

Die Bilder von Gabriela Dauerer sind eigenartige Bilder. Sie haben keine Mitte, sie haben keine Schwerpunkte, sie haben keine Ränder. Die Mitte ist überall und auch wieder nirgendwo. Sie sind raumlos. Die Formen breiten sich in alle Richtungen. sie kennen keine Grenzen. Wie eine Schlammlawine überziehen sie die Flächen. Für sie scheint der Raum dehnbar zu sein. Sie sind überall, sie sind besessen in ihrer Platzergreifung. Ähnlich den gierigen Menschen, die in Gabriela Dauerer’s früheren Bildern nach Essen greifen, greifen diese Formen nach Raum, den sie mit einer erstaunlichen Unbeugsamkeit für sich beanspruchen. Sie sind wie Menschenmassen. Grenzenlos in ihrer Gier. Und es sind eigenartige Bilder, denn sie zeigen keine eindeutig erkennbaren Formen und auch kein Geschehen, was zeitlich abläuft. Auf ihnen scheint alles gleichzeitig, nebenein- ander, durcheinander und hintereinander zu geschehen, doch das lässt sich eigentlich zeitlich nicht auseinanderhalten. Vorher und Nachher gibt es nicht in diesen Bildern, aber auch keine uns vertraute Gleichzeitigkeit. Als ob diese Formen in einem plötzlichen Urknall, der keinen zeitlich Ablauf kennt, entstanden wären. Sie sind plötzlich da, ohne das deren Entstehen in einer zeitlichen Abfolge passieren würde. Sie sind zeitlos, doch das heißt nicht, dass sie ewig sind. Vielmehr sind sie von einer kaum fassbaren Zeitlichkeit, die keine Dauer kennt und trotzdem geschieht sie.“Das was geschieht, hat einen solchen Vorsprung vor unserem Meinen, dass wir niemals einholen, und nie erfahren, wie es wirklich aussah“. Es sind Worte von Rilke, die genau auch auf die Bilder von Gabriela Dauerer zutreffen. Denn auch auf den Bildern von Gabriela Dauerer scheinen plötzlich Formen auf, die von uns erst nach und nach wahrgenommen werden, ganz gefasst werden sie doch nie, denn sie entziehen sich nicht nur unseren inhaltlichen, sondern auch unseren zeitlichen Begriffen.

— Noemi Smolik

Raum und Zeit in Bildern II ARTFORUM Summer 1995

In her earlier paintings, Gabriela Dauerer depicted people, seated at tables piled high with food, who seemed driven by an inexorable greed. In her most recent works, the human figure has been replaced by abstract forms comprised, actually, of hangers that have been crossed to form shapes so that the original elements are no longer recognizable. There is no focal point in these works, rather the forms spread in all directions, covering the surfaces in an avalanche of brightly colored shapes. Much like the gluttonus people in Dauerer’s earlier paintings grasping for food, these forms claim the space with a determined and surprising force. Her drawings are somewhat different, more reflective of a search for a lost balance than of the desire to conquer and consume. Her quickly sketched forms seem to have come into beeing as if by chance and are reproduced as mirror images on the same piece of paper. In these works there is a tension between order und chaos, between the symmetry of the shapes and the pages torn from law books on which the shapes are painted in black. In her drawings, Dauerer seems to be pointing to a universe where our laws may no longer apply, while in her paintings she suggests an order where all is chaos, albeit one with a logic of is own. In the words of Rainer Maria Rilke, “That which occurs has such an advantage over our intensions that we never recover and never experience it as it really appeared”.

— Noemi Smolik, translated from German by Franz Peter Hugdahl

Raum und Zeit in Bildern III

Die Malereien Gabriela Dauerer’s sind oft dunkel erdig kräftig. In den Strukturen, Pattern, Feldern, begegnet sie einer Welt, an deren Mächtigkeit und Lautheit die Intensität wächst, die die Malerin zur Selbstbehauptung aufbringen muss. In den frühen Bildern zum Beginn der 80er Jahre spielt dies in der Darstellung von Menschenmassen eine Rolle. Die besetzen was das Kind in der Masse von Kieselsteinen oder Sägespänen als Urerfahrung ergriffen hat. In den neueren Bildern ist diese Festlegung in den Formen und ihrer Wieder- holung und er Behandlung der Struktur mit dem Kleiderbügel als strukturierenden Malgerät variiert. Diese Bilder sind schwereloser, wie durchlässige Vorhänge. Der Antrieb ist, eine Macht zu schaffen, die der Angst begegnet. Die Farbgebung: das bedeutet auch ein Ausüben von Macht. Die Valeurs sind mächtig ein in uns bestimmtes Gefühl zu erzeugen, dass da etwas lebt, ein selbständiger Organismus - das Bild. Dabei hilft, dass die Farben gebrochen verwendet werden: das Helle im Dunkeln. Die Malerin handelt im Bewusstsein der Macht der Farbigkeit, wobei sie eher dem Dasein eine Farbigkeit geben will, als dass sie versucht, die Geschichte der Farbe weiter zu entwickeln. Das Malen ist für sie der Akt, der in erster Linie mit seiner Ursprünglichkeit und erst in zweiter Linie mit der Geschichte der Abbilder verbunden ist. Die Farbigkeit ihrer Bilder scheint vom Verschwinden bedroht und so macht die Farbe neben der Struktur und der Wiederholung, der Bewegung und der Dichte nicht mehr als einen Teil der Geschichte ihres Bildes aus. Andere Teile sind ihre Heftigkeit, ihr Ritual, ihre Versenkung im Malen – diese Geste, die sich äusserst beherrscht und minimalisiert mitteilt. Eine dunkle Ikone nennt sie ein Bild. Es ist die Übermalung einer älteren Arbeit, die aus den Wiederholungen von Zeichen, einer Vielzahl von Haken, vielleicht Gliedmaßen, einem Tanz, einer heftigen Bewegung des Zusammenhaltens besteht, die sie wie ich auch eine wilde und ursprüngliche als auch religiöse Bildgestaltung nennt. Eine ganz andere Sicht auf ihre Malerei erlebte ich an dem Bild „Spuren“. Gabriela Dauerer kann dem Schmutz einen Glanz abgewinnen und vermitteln, dass der Schmutz eigentlich ein Grund ist und diese Kruste aus Erde und Schmutz, die uns umgibt, ein Glanz. Dieses ganz und gar malerische Bild hat dennoch die Aktualität eines Film-Stils, eine Reprise auf einen Spot aus einem schwarz-weißen Kriminalfilm der 50er Jahre. Es sind sonst die Übermalungen von Formen aus den 60er/70er Jahren, der Prägestempel ihrer Jugendzeit, aus der sogenannten „Heilen Welt“,, wie sie sagt, die den Stoff für ihre Auseinandersetzung abgeben. Aus dem als Paradoxum empfundenen Bewusstsein der Existenz einer gegenständlichen als immateriellen Welt malt sie ein sakrales Bild. Das heißt die Sache leidenschaftlich betreiben. Mittel der Leidenschaft sind in einem Teil ihrer Bilder die Kleiderbügel. Das entbehrt nicht des Humors . Mit Tapetenbahnen und Kleiderbügeln hat sie ein Handwerkszeug gefunden mit dem sich die Strukturen des trauten Heimes in ihrer eigenen Sprache ironisieren lassen. Maßgebend für die Erinnerung an die Darstellung menschlicher Gestalt in ihren früheren Bildern erinnern sie an Knochen. Die Codierung aus Maltechnik und Bildgegenstand entwickelt die Qualität einer Sprache, gesprochen auf Tapetenbahnen, mit denen die Künstlerin skulptural und als Installation auf Räume eingehen kann. Das Material ihrer Sprache bezeichnet sie im übrigen als Sondermüll. Als Wieder- und Weiterverwertung entstehen die Bilder aus Tapetenbahnen, die einem Reißverschluß gleich, Welten in ihr Bild schließen und dort einen Raum ihren Raum bilden.

— Hans-Werner Bott

Das Trauma der Gleichförmigkeit Anmerkungen zu Gabriela Dauerers Arbeiten und Person

„Es ist, als würde jeder Körper in alle seine einzelnen Teile auseinander gelegt, nicht nur in Beine und Arme, denn das ist oft der Fall, sondern auch in Zehen, Finger, Zungen und Augen, und nun tun sich alle Zungen etwa zusammen und vollführen im selben Augenblick genau dasselbe. Bald sind sich alle Zehen, bald alle Augen in ein und derselben Unternehmung gleich. Die Menschen in jedem ihrer kleinsten Teile sind von dieser Gleichheit ergriffen, und immer wird sie in einer Aktion, die sich heftig steigert, vorgeführt… Die Dichte ist nicht bloß eine Dichte der Leute, es ist ebenso die ihrer separaten Glieder“.

So kommentiert Elias Canetti einen Bericht über den Kriegstanz „Haka“ der Maori auf Neuseeland. Es scheinen ähnliche auflösende und einsaugende Kräfte wie die des „Haka“ zu sein, die Gabriela Dauerer in ihrem Triptychon von 1988 visualisiert (Abb.1). Die bis ins Feinste ausgearbeitete kleinteilige Struktur befindet sich in einem Zwischenraum vager Gegenständlichkeit und amorpher Abstraktion. Sie stiftet zunächst Verwirrung und provoziert das Gefühl, sich sehend in ein auswegloses Labyrinth zu verstricken; Gliedmaßen, Köpfe, Körperteile jeder Art tauchen bei längerem Hinsehen auf und verschwinden wieder; die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit ist verwischt. Erkennbar bleiben wilde Drehungen, die sich in ihrer permanenten Wiederholung doch als geordnet erweisen und einem erschreckenden Automatismus unterworfen sind. Nicht einmal vor den Kanten und Leinwände, welche das Mittelstück einfassen, machen sie Halt, sondern gleiten über diese hinweg in eine undefinierte Tiefe. Alle Glieder aller Drehungen sind jenem Sog verfallen, der sie ins Zentrum zieht und damit noch mehr vom Betrachter entfernt. Verleitet auch der Anblick der Randpartien dazu, Einzelnes identifizierend herauszulösen, muss ein solcher Versuch scheitern, je mehr sich der Blick der Mitte nähert.

Im Zentrum des Triptychons erhält die Auflösung des Einzelnen im Ganzen durch das hier platzierte Rechteck noch einmal eine neue Qualität. Von dieser Fläche schabte Gabriela Dauerer die getrocknete Ölfarbe wieder ab, die sie hier zuvor im Duktus des übrigen Bildes aufgetragen hatte. Die abgeschabte Farbmasse, die nur noch wenige Merkmale ihrer früheren Struktur zeigt, wurde auf derselben Stelle wieder aufgetragen, und es bleibt eine diffuse Farbfläche zurück, innerhalb derer nicht einmal mehr eine drehende Bewegung auszumachen ist. Die zentrale Figur der konturenlosen Vermischung deutet zum einen den Ausgangspunkt der Sogwirkung an und mithin die nicht näher bestimmbare Tiefe, in die die Masse – welcher Art auch immer sie sein mag – hineinströmt. Zum anderen gibt die formale Anordnung einer Masse rund um ein rechteckiges Feld die Assoziation mit einer Art von Stadion frei, bei dem der Platz wie ein Magnet wirkt, die Masse jedoch nicht in sich aufnimmt.

Das Nachströmen von außen erweckt jedoch eher den Eindruck eines infiniten Regresses, der keinen Endpunkt, also auch keine Abgrenzung eines Feldes kennt. Die klar erkennbaren Seiten der Zentralfigur wären demnach eher Bruchstellen, an denen die Masse abrupt von einem in den anderen Zustand eintritt.- In gewissem Sinne kann das Rechteck auch als eine Art „Bild im Bild“ gelten. Doch diese Abbildung bleibt zweideutig und wird so geschickt in der Schwebe gehalten. Denn einerseits kann die Zentralfigur als eine Verkleinerung des Gesamtbildes gesehen werden, da beiden das Seitenverhältnis 1:2 gemeinsam ist. Andererseits spiegelt der selbst dreigeteilte Mittelteil, um einen 90 Grad Winkel gedreht, das ganze Triptychon. Das zentrale Rechteck würde hier die Rolle des Mittelteils übernehmen.

Doch diesen beiden Sichtweisen zufolge fasst die Zentralfigur den Vorgang quasi zusammen, sie reflektiert das Eingesogenwerden der Masse in sich und stellt das Geschehen komprimiert dar, indem sie dessen Konsequenz aufzeigt: die diffuse Vermischung und Auflösung aller einzelnen Glieder einer gleichmachenden Bewegung, ihre Ununterscheidbarkeit, ihre in der Gestaltlosigkeit nicht mehr erkennbare und doch nachhallende Verstümmelung. Die zu Beginn (d.h. hier: am Rand) vielleicht noch tänzerische Drehbewegung wird durch die unendliche Wiederholung, die schließliche Vermassung und deren Eigendynamik zu mikroskopischem Flimmern. Es ist für diesen Umschlag kein anderer Grund erkennbar als das massenhafte gleichförmige Auftreten, das einer potenzierten Ritualisierung entspricht. Ursprüngliche Lebensäußerungen wie die des Tanzes, in welchem sich individueller Körperausdruck und Gemeinschaftsbildung verbinden, widersetzen sich einer solchen Form, indem sie sich selbst darin zum Verschwinden bringen. Die selbstzweckhafte Bewegung und der Augenblick reiner Lebensbejahung erlauben keine so oft versuchte kultische Verlängerung und Reglementierung, ohne dass der Kult selbst zum Gegenteil des lebendigen würde. Auch die Gestaltung des Bildes als Triptychon könnte in diesem Falle ein Hinweis auf das Problem quasi-religiöser Ritualisierungen sein. Die Flügelteile sind jedoch in Umkehrung der traditionellen Form des christlichen Altarbildes breiter als der Mittelteil, ja es entsteht sogar die Vorstellung, dass die von den Seiten herströmende Masse durch ihren Durch auf die Kanten des Mittelteils diese noch enger zusammenzurücken vermöchte. Diese könnte auf die Vorläufigkeit der starren dreiteiligen Ordnung über dem Chaos hindeuten. Vor allem aber zeigt diese Aufteilung, dass dem Mittelteil kein übergeordneter Status zukommt. Er präsentiert kein erhabenes Motiv der Anbetung, sondern stattdessen die Leere der Überfülle, das Floskelhafte der gleichförmigen Gesten und sogar noch deren Verstummen.

Gabriela Dauerer visualisiert die Masse der Tanzenden, Essenden, Trinkenden, Betenden, Singenden..., die Masse der Taten, Bewegungen – nicht den Musiker, den Koch, den Mundschenk, den Priester, den Dirigenten… nicht den Täter, das Ziel der Taten, kein System der Ordnung, sondern“ geordnetes Chaos“ (G. Dauerer). Sie nimmt so eine uns ungewohnte umgekehrte Perspektive ein und damit die Anatomie und Dynamik der „passiven“ Mengen in den Blick. Passive, leidende Substanz in einem etwas anderen Sinne ist auch das Thema einer sehr persönlichen Arbeit von 1988 (siehe Abb.2). Hier ist wiederum die Essenz des Geschehens in einer Zentralfigur zum Ausdruck gebracht, die lediglich ein wenig zum oberen Bildrand verschoben ist. Es handelt sich diesmal jedoch um eine organische Form, die sich in die kleinteilige Struktur des Umfeldes einfügt. Sowohl die Form als auch die rot-braune Flüssigkeit lassen an ein Körperorgan, etwa an ein Herz, denken. Dabei zeigt die Form selbst schon deutliche Zeichen der Zerstörung. Sie lässt ebenfalls die Assoziation mit einer großen Wunde zu. Die Figur ist einer brutalen Einwirkung von außen ausgesetzt. Lange pfahlartige Gebilde ragen in sie hinein oder stoßen vielmehr zu. Sie kommen aus unterschiedlichen Richtungen; da ihre Herkunft von außerhalb des Bildrandes gedacht werden muss, sind keine Ausgangspunkte, keine aktivierenden Kräfte erkennbar. Der Eindruck der Willkürlichkeit, den sie erwecken, steht im Gegensatz zu den strengen, rechtwinklig angeordneten Kanten im oben beschriebenen Triptychon. Die „Pfähle“ ähneln den Kanten jedoch in ihrem einschneidenden und von der kleinteiligen Struktur unberührten Charakter. Zudem befestigen im einen Falle die Kanten sozusagen die Zentralfigur, indem sie sie einrahmen, während im anderen die Figur von den „Pfählen“ verletzt und zerstört wird.

Diese Differenzen und Parallelen legen den Schluss nahe, dass es sich hier um zwei einander entsprechende Seiten desselben Erleidens bzw. derselben Auflösung handelt. Wie im Falle des Triptychons eine Draufsicht die Auflösung jeder individuellen und spontanen Lebensäußerung im modernen Kultersatz, der Wiederholung in der Masse, ästhetisch analysiert, so zeigt das kleinere Ölgemälde einen Einblick in die Psyche einer Person, die eine solche oder ähnliche Auflösung, d.i. ihre tiefgreifendste Verletzung erleidet. Erst dieser Einblick macht die Brutalität des ganzen Vorgangs unverhohlen deutlich.

In der existentiellen Tiefe, die Gabriela Dauerers Bilder erreichen, verbinden sich Persönlichstes und Allgemeinstes. Das „Massenhafte“ und dessen Gesetzmäßigkeit sind Synonyme für die Entleerung aller Lebensvollzüge sowohl durch ihre zeitliche Wiederholung als auch durch ihre unendliche Vervielfältigung, wie sie etwa die modernen Massenmedien möglich machen. Es versteht sich daher von selbst, dass diese Arbeiten kein bloßes gesellschaftskritisches Statement sein wollen und dass die Malerin einer selbstgewissen Beobachterperspektive entbehrt. So ist es weniger ein äußeres sachliches Interesse an der Geschichte, das Gabriela Dauerer zur Aufeinandersetzung mit diesem Themenkreis angeregt hat, vielmehr sind es die Kindheitseindrücke, die die gebürtige Nürnbergerin beim Spiel auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände erhielt, die merkwürdige Atmosphäre der Stadt, die durch das beharrliche Verschweigen der Vergangenheit entstanden war, und die bei ihr (geb. 1958) sowie bei vielen ihrer Generation eine diffuse Kriegsangst erzeugte. Auch ihre Beschäftigung mit der Form der Wiederholung im Sinne einer rituellen Qualität hat die Wurzel der eigenen schmerzlichen Erfahrung von Vergänglichkeit. Als Kind erfand sie ein Spiel, mit dem sie die Zeit anzuhalten versuchte. Es bestand darin, an bestimmten Tagen und zu festen Uhrzeiten genau die gleichen selbsterfundenen Handlungen auszuführen wie zum gleichen Zeitpunkt des vorangegangenen Jahres, etwa dieselben Gegenstände in derselben Anordnung am selben Ort zu platzieren. Ihre Bilder leben auch heute noch von der Faszination der Wiederholung – ein wichtiges Element im Kult der Masse – sowie von der Furcht vor ihren verheerenden Folgen, wenn sie zum Zwang wird. Gabriela Dauerer gelingen künstlerische Aussagen allgemeiner Tragkraft aus einer subjektiven und existentiellen Notwendigkeit heraus. Zwangsläufig widersetzt sie sich damit bestehenden Abläufen gesellschaftlicher, politischer oder psychischer Art. So versteht sich Gabriela Dauerer allein in dem Sinne als kritische Künstlerin, als der Anstoß zu jeder künstlerischen Gestaltung im Widerstand besteht.

In bewusster Einhaltung der Trennung von Kunst und Politik findet sie zu einer ästhetischen Analyse von Masse im Medium der Malerei. Diese leistet insofern einen erheblichen Beitrag zur Verarbeitung unserer Vergangenheit, als sie einen visuellen, sinnlichen Lernprozess fördert, der in dieser Intensität bisher allenfalls auf intellektueller, literarischer Ebene durch Überlegungen zum Phänomen der Masse geleistet worden ist. Ihre Arbeiten machen Masse in ihrer entmenschlichenden Wirkung erschreckend erlebbar. Sie veranschaulichen so eine Qualität von Masse, deren ungeheure Macht und Beeinflussbarkeit erst der Faschismus mit den Mitteln kultischer Inszenierungen politisch benutzt hat. Daher bewirken die Arbeiten von Gabriela Dauerer m.E. mehr als aufwendige Ausstellungsinszenierungen, die derartige Phänomene nachzustellen versuchen. Nicht zuletzt zeigt Gabriela Dauerer die Gegenwart von Verhaltensmechanismen, die im Nationalsozialismus tragend waren: die Bereitschaft, die Last der eigenen Freiheit dem „Kriegstanz“ zu opfern.

— Rollenbilder im Nationalsozialismus, Umgang mit dem Erbe, Stefanie Poley, K.H.Bock, Text: Rita Tüpper, Bad Honnef, I.S.B.N.:3-87066-268-9;